Berufsbedingt ist Ruth Pöltl ein sehr strukturierter Mensch. Das geht auch gar nicht anders. Als Anästhesistin und Notärztin muss sie genau wissen, welches Medikament wo liegt, damit sie im Ernstfall fast schon blind danach greifen kann. "Da bin ich penibelst und bringe das auch allen anderen so bei. Wenn es brennt, hat man keine Zeit, dreimal nachzukontrollieren, ob das eh stimmt." Doch zu Hause ist die 41-Jährige eine organisierte Chaosprinzessin, wie sie selbst sagt. Und irgendwann war das Chaos einfach nicht mehr organisiert und ist ihr über den Kopf gewachsen.

Ruth Pöltl in ihrer Küche
Wenn Ruth Pöltl in ihr Haus kommt, stellt sich jedes Mal ein Gefühl der Freude ein. Das war nicht immer so.
Heribert Corn

Im Sommer 2021 war Pöltl mit ihren beiden Kindern endlich in ihr Wunschhaus gezogen, mit ausreichend Platz und einem Garten. Doch es dauerte mit dem Ankommen, Wohn- und Schlafzimmer waren ewig nicht fertig eingerichtet, und in der Küche stand immer nur alles herum. "In den Kellerraum und in die Gartenhütte konnte man irgendwann überhaupt nicht mehr hineingehen, so viel Zeug war da." Dazu kam, dass eine Weile sechs Personen in dem Haus lebten statt der geplanten drei: Pöltls Partner zog vorübergehend mit seinen beiden Kindern ein. Das war geplant und auf Zeit, und "die Kinder verstehen sich super. Aber natürlich gab es auch so manche Herausforderung."

Chaos in der Küche
In der Küche etwa herrschte ständig Chaos. Weil vieles keinen definierten Platz hatte, konnte es auch nicht richtig weggeräumt werden. Das Gleiche galt für Schlafzimmer und Keller.
Privat

Kein sicherer Hafen

In dieser Situation erkrankte Pöltl im Juni 2022 an Corona – und in Folge an Long Covid. Das hat dem Chaos den Rest gegeben. "Ich war immer ein total aktiver Mensch", erzählt sie, "aber da habe ich es nicht einmal mehr in den ersten Stock hinauf geschafft, ohne auf halbem Weg nach Luft schnappen zu müssen. Dazu kam der Brain-Fog. Ich war so fertig, ich war nicht in der Lage, an einem Tag eine Mahlzeit zu kochen und danach noch eine Ladung Wäsche zu machen." Und auch das langersehnte Haus wurde immer mehr zur Belastung: "Jedes Mal, wenn ich zur Tür hereingekommen bin, hab ich nur noch gesehen, was alles gemacht werden muss. Und irgendwann ist der Berg so groß, dass man nicht mehr weiß, wie man es angehen soll."

Weil die Long-Covid-Symptome nicht besser wurden, ging Pöltl schließlich auf Reha. Dort stand auch Psychotherapie auf dem Plan. "Da ist viel zusammengekommen, auch alte Themen haben sich aufgetan. Aber es war eine super Chance für mich. Und eine klare Erkenntnis war, dass ich mein Leben vereinfachen muss." Zum ersten Mal hörte Pöltl dort von Ordnungscoaches – und beschloss, sich Unterstützung zu holen.

Am Kipppunkt

Diesen Kipppunkt kennt Katrin Miseré gut, den haben viele ihrer Kundinnen und Kunden erlebt. Sie ist Ordnungscoach und hilft Menschen dabei, wieder Struktur in ihr Zuhause zu bringen. Und sie stellt gleich klar: "Es gibt glückliche Chaotinnen und Chaoten. Viele Menschen brauchen keine klare Ordnung für ihr inneres Wohlbefinden. Aber es gibt auch die, die unter der Unordnung leiden. Und die melden sich bei uns."

Mit uns meint sie die Mitglieder des Ordnungsverbands Österreich. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen stellen bei ihrer Tätigkeit fest: Wenn das eigene Zuhause im Chaos versinkt, kann das bedeuten, dass der sichere Hafen, der entspannte Rückzugsort, den die eigenen vier Wände für viele bedeuten, verlorengeht. Dabei ist dieser Hafen gerade in Zeiten von Krisen wichtig. Sonst kommt man sozusagen vom Chaos im Leben da draußen in das Chaos zu Hause. "Das ist dann anstrengend, und zwar ohne Pause", erzählt Miseré.

Doch was ist ein geordnetes Zuhause? Muss alles klinisch sauber sein? "Nein, ganz und gar nicht", betont Miseré. "Ein Heim braucht Gemütlichkeit und Flair. Was das für eine Person bedeutet, ist sehr individuell. Da kann nicht einfach eine Person von außen kommen und ein starres Konzept durchziehen." Doch es sollte eine klare Struktur geben.

Zu viel Zeug, zu wenig Platz

"In meiner Erfahrung ist Unordnung fast immer eine Folge von zu viel und unstrukturiertem Besitz", erzählt sie aus ihrer langjährigen Praxis. Dem Klischee des sogenannten Messies entsprechen die wenigsten Menschen, die zu ihr kommen. "Aber wir leben in einer Konsumkultur. Besitz gibt vielen ein Gefühl der Sicherheit. Irgendwann wird der Besitz immer mehr und der vorhandene Platz immer zugeräumter. Bis man den Überblick verliert."

Ordnung schaffen bedeutet dann in erster Linie, sich von Besitz zu trennen. "Bei diesem Loslassen fehlt es vielen Menschen aber einfach an Übung." Denn nicht wenige halten auch an ganz banalen Dingen fest, an uralten Rechnungen etwa oder an einem Dekogeschenk der Nachbarin aus der ersten eigenen Wohnung. "Da kommt dann das Gefühl, den Papierkram könnte man ja noch einmal brauchen oder man gibt doch kein Geschenk weg. Eine emotional unbeteiligte Person kann da hilfreich sein."

Durcheinander im Keller
Der Abstellraum in Ruth Pöltls Keller war irgendwann so voll und chaotisch, dass man gar nicht mehr wirklich hineingehen konnte.
Katrin Miseré
Ausgeräumter Keller
Eine Aufräumsession mit Unterstützung reichte, um hier für mehr Freiraum zu sorgen.
Katrin Miseré

Ist fertig ausgemistet, kommt der nächste Schritt: herausfinden, welche Art von Ordnung man haben möchte. "Manche brauchen eine ganz klare Ordnung, wo alles in gelabelten Boxen verstaut ist. Andere wollen auch in der Ordnung eine gewisse Lässigkeit", erzählt Miseré. Da hat dann zwar jedes Ding prinzipiell seinen Platz, "aber die Laden sind eher lose strukturiert, nicht akribisch geordnet". Miseré selbst plädiert dafür, eine gewisse Entspanntheit zu leben. "Will man zu penibel sein, kann das auch wieder Stress ins Leben bringen."

Emotion und Erleichterung

Für Ruth Pöltl war die Hilfe von außen eine wichtige Initialzündung. "Am Anfang habe ich mir gedacht, die Frau spinnt. Sie hat gesagt, sie liebt es, Papiere zu ordnen. Wer tut sowas schon freiwillig? Aber mit dieser Unterstützung hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, eine Ordnung ist machbar." Heute hat jedes Ding, vom Garantieschein für ein Gerät bis zu schnell greifbaren Snackvorräten, seinen klar definierten Platz – und alles, was nicht nötig ist, kommt weg.

Angefühlt hat sich dieses Weggeben sehr unterschiedlich. "In manchen Bereichen war das Aussortieren eine totale Erleichterung, im Keller zum Beispiel. Aber das Bücherregal zu entrümpeln, das hat fast schon wehgetan. Und auch bei Kinderzeichnungen und anderen Erinnerungsstücken ist es sehr emotional geworden." Geholfen hat Pöltl da, sich zu fragen, was sie eigentlich mit dem Objekt verbindet, ob es wirklich schöne Erinnerungen auslöst. "Da sind dann tatsächlich nur ein paar Dinge übriggeblieben." Und der Rest wird auch nicht einfach weggeworfen, auch das hilft beim Loslassen. Manche aussortierten Dinge werden verkauft, andere gespendet.

Ruth Pöltl ist mit dem Ausmisten noch nicht ganz fertig. "Ein paar blinde Flecken habe ich noch. An fast jedem Wochenende nehme ich mir irgendeine Ecke vor. Aber ich habe jetzt schon so viel Kapazität freigespielt." Und vor allem freut sich die Niederösterreicherin inzwischen jedes Mal, wenn sie bei der Haustüre reinkommt und ihre gemütliche, wohlgeordnete Wohnung betritt: "Jetzt ist es endlich ein Zuhause!" (Pia Kruckenhauser, 4.5.2024)