Der abgesperrte Tatort.
IMAGO/LP/Olivier Arandel

Der Chauffeur des Gefangenentransports wunderte sich wohl, dass ihm an der Mautstelle in Incarville in der Normandie gleich nach der Schranke ein Auto entgegenkam: Er blinkte ihm noch mit dem Scheinwerfer zu. Da knallte der schwarze Geländewagen aber bereits in den Transporter – und nicht aus Versehen. Auch von hinten rammte ihn ein Fahrzeug, um ihn einzuklemmen.

Wie dank der Überwachungskamera unscharf zu sehen ist, sprangen vier oder fünf schwarz gekleidete Männer aus den beiden angreifenden Wagen. Sie gingen dahinter in Deckung; ein Blitz zeugt von einer Explosion. Daraufhin öffnete sich die Tür des Gefangenentransporters, ein Insasse sprang heraus und rannte davon. Die Komplizen zückten schwere Waffen, offenbar wurde geschossen; daraufhin rannten die Männer davon.

Diese Actionszene stammt nicht aus einem Film, sondern ereignete sich am Dienstag kurz vor Mittag an einer Mautstation der nordfranzösischen Autobahn A154. Der Gefangenentransporter war gerade dabei, den Häftling Mohamed A. von einem Gerichtstermin in Rouen in die Haftanstalt Evreux zurückzubringen.

Zwei Tote, drei Verletzte

Nach der Befreiung des 30-Jährigen wechselten seine Komplizen ihr Fahrzeug, nachdem sie die zwei Rammbockautos in Brand gesteckt hatten, und fuhren davon. Tragische Bilanz der Attacke: Zwei Wächter wurden erschossen, drei weitere verletzt.

In der Normandie erfolgte sofort Polizeialarm. 200 Gendarmen nahmen die Fahndung auf. Premierminister Gabriel Attal versprach, die Täter würden "gefasst, verurteilt, bestraft". Präsident Emmanuel Macron erklärte, die Nation sei schockiert, und drückte allen Familien sein Beileid aus. Die Gewerkschaften riefen für Mittwoch zu einer Arbeitsniederlegung auf. Seit mehr als zwanzig Jahren war in Frankreich kein Gefängnisbeamter getötet worden.

Französische Polizeibeamte bei Mautstelle in Incarville, nach Angriff auf Gefangenentransport.
Die Angreifer überfielen den Transporter vor den Augen geschockter Autofahrer.
EPA/CHRISTOPHE PETIT TESSON

Bei dem Gefangenen Mohamed A. handelt es sich um einen mehrfach verurteilten Straftäter. Vor Gericht stand er am Dienstag wegen "Entführung mit Todesfolge", dazu auch wegen Mordes. In den vergangenen Jahren war er ein Dutzend Mal wegen kleinerer Delikte wie Diebstahls verurteilt worden. Im Milieu trug er den Spitznamen "die Fliege" (la mouche). Erst am vergangenen Sonntag hatte er laut Pariser Medien erfolglos versucht, die Gitterstäbe seiner Zelle zu durchsägen.

Vorab informiert

Dass seine Komplizen von dem Transport wussten, lässt darauf schließen, dass sie der Gefangene per Handy selber informiert hatte – oder dass die Bande über Informanten im Justizwesen verfügt.

Groß ist die Bestürzung, ja Wut in der Öffentlichkeit. Viele Franzosen haben das Gefühl, dass sich die Gewaltverbrechen fast monatlich mehren. Nicht zufällig läuft gegen den entkommenen Schwerverbrecher A. seit 2022 auch eine Ermittlung wegen Drogenhandels. Am Dienstag hatten zwei Senatoren in einem 600-seitigen Bericht detailliert beschrieben, wie Frankreich von den Drogenbanden geradezu "überschwemmt" werde. (Stefan Brändle aus Paris, 15.5.2024)