Die Gewerkschaft tut sich offenbar schwer mit einer Ansage gegen die Forderung der Industriellenvereinigung nach einer 41-Stunden-Arbeitswoche. Die ÖGB-Spitze schweigt, nach und nach rückten die Vorsitzenden der Fachgewerkschaften aus. Der Chef der Produktionsgewerkschaft Proge, Reinhold Binder, lehnt einen Angriff auf die Geldbörsen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kategorisch ab.

STANDARD: Die Industrie ruft nach einer 41-Stunden-Arbeitswoche. Ist das eine Retourkutsche der Industrie für die Forderung der Gewerkschaft nach einer 25- oder 32-Stunden-Woche, wie Wifo-Chef Gabriel Felbermayr meint?

Binder: Für mich ist die 41-Stunden-Woche ein billiger PR-Gag. Das passt zur Totengräberstimmung, die von der Industriellenvereinigung seit Monaten vorgetragen wird, und damit ist es nicht mehr als ein billiges Ablenkungsmanöver. Das erinnert mich an Zeiten, in denen die Industriellenvereinigung Dinge bestellt hat, und die ÖVP-geführte Regierung hat geliefert. Es ist also letztlich eine ÖVP-Kampagne.

Metallgewerkschaftschef Reinhold Binder beim Interview in seinem Büro im ÖGB-Haus am Handelskai.
Metallgewerkschaftschef Reinhold Binder ist zum Kampf für Verbesserungen von Arbeitszeitregelungen bereit.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Nicht wirklich. Nach Europaministerin Karoline Edtstadler ruderte auch Kanzler Karl Nehammer zurück, er verwies auf die zuständigen Sozialpartner ...

Binder: Der öffentliche Druck ist offenbar angekommen, dass das keine gute Idee ist. Was mich wahnsinnig ärgert, ist, dass die 47 Millionen unbezahlten Überstunden ignoriert werden. Die tun ja, als würden die Arbeitnehmer in die Hock'n flanieren. Es ist respektlos jenen gegenüber, die schuften und hackeln.

STANDARD: Es ist schon auch was dran an der Forderung, die hohe Teilzeitquote drückt ja die in Österreich geleistete Arbeit pro Dienstnehmer gewaltig. Andererseits differiert die Wochenarbeitszeit nach Branchen, die Erhöhung wäre also ungleich. Worum geht es eigentlich?

Binder: Wir werden jeden Angriff auf die Geldbörsen der Arbeitnehmer natürlich vehement abwehren. Wir haben wichtige Betriebe mit Betriebslaufzeiten von 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, die rennen auch an Feiertagen weiter. Der Gewerkschaft geht es da um die Feiertagszuschläge für Arbeit an schützenswerten Ruhetagen. Und denen fällt nichts anderes ein, als den Leuten was wegzunehmen? Und dann kommt der Rewe-Chef daher und will die Ladenöffnungszeiten bis in die Nacht ausdehnen. Die wissen offenbar gar nicht mehr, wo sie noch hingreifen sollen. Da werden wir uns zur Wehr setzen. Wenn wir über Teilzeit reden, dann möchte ich darüber sprechen, wer in Teilzeitarbeit gezwungen wird, weil die Handelskonzerne oder Reinigungsfirmen gar keine Vollzeitstellen anbieten. Zu reden wird auch darüber sein, wie man Familien-, Pflege- und Care-Arbeit mit Vollzeitarbeit in Einklang bringen kann. Nach einem halben Jahrhundert 40-Stunden-Woche muss der Schritt in die richtige Richtung gehen, das heißt Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Es hat ja eine massive Verdichtung der Arbeitszeit stattgefunden.

STANDARD: Warum tut sich die Gewerkschaft so schwer, auf eine plakative, wenn Sie so wollen, populistische Forderung eine vernünftige, knackige Antwort zu geben? Was bisher an Reaktionen gekommen ist, ist dünn und geradezu armselig.

Binder: Weil Arbeitszeit viel komplexer ist, als es klingt. Wir sind gerade mitten in der Frühjahrslohnrunde, und es gibt keine einfache Antwort, die für alle gleichermaßen passt. In der Papierindustrie haben wir eine 36-Stunden-Woche, das ist schwere Arbeit, weil die Maschinen rund um die Uhr laufen. Da würden 41 Stunden Wochenarbeitszeit etwas anderes bedeuten als in Branchen mit 40 oder 38,5 Stunden. Uns geht es auch darum, die Überstundenzuschläge zu schützen.

STANDARD: Also geht es Ihnen doch nur um die Überstundenzuschläge?

Binder: Natürlich, aber nicht nur. Der Industrie geht es ja nicht nur darum, die Arbeitszeiten auszudehnen, in Wirklichkeit wollen sie Gratisarbeit. Das geht mit uns sicher nicht.

STANDARD: Gratisarbeit wohl nicht, aber vielleicht um Einsparungen bei Überstundenzuschlägen ...

Binder: Ich sehe es bei den Lohnverhandlungen, dass selbst die Unternehmer nicht einstimmen in den Totgesang der Industriellenvereinigung. Wir müssen über die Zukunft der Arbeitswelt reden und über die Transformation der Wirtschaft. Eine Industrie- und Standortstrategie gibt es nicht, da versagt die Politik kläglich, wie bei der Energiesicherheit. Die europäische und regionale Wertschöpfung ist denen egal, das zeigt die Beschaffung von chinesischen statt europäischen Elektroautos. Deshalb wäre ein Transformationsfonds, wie ihn SPÖ-Chef Babler mit 20 Milliarden Euro vorschlägt, so wichtig.

STANDARD: Die Milliarden für die Transformation gibt es längst, fast sechs Milliarden Euro an Förderungen sind für die grüne Wende reserviert, ein Teil davon für die Industrie. So viel Geld in ein Vehikel wie die Staatsholding Öbag zu geben, wäre wohl wenig transparent. Das sieht man bei den Corona-Hilfen der Cofag. Was soll das bringen?

Binder: Wir müssen das für die nächsten zehn bis 15 Jahre planen, wir brauchen Leitplanken, sonst fehlt das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort. Durch diesen blöden Totgesang auf den Wirtschaftsstandort gehen die Investitionen der Unternehmen zurück, und jetzt wundern sich die Wirtschaftsforscher, warum der Konsum nicht anspringt. Wir haben mit den Lohnrunden die Kaufkraft gestärkt. Aber wenn jeder um seinen Job fürchtet, wird er nicht viel ausgeben. Die Leute haben längst in ihr Erspartes gegriffen, deshalb dauert es, bis auch der private Konsum anspringt.

STANDARD: Den Vorteil eines 20-Milliarden-Fonds sehe ich noch nicht. Die Unternehmen wissen am besten, wie sie ihr Geschäft zukunftsfit machen, welche neuen Absatzmärkte sie adressieren können und müssen. Der Staat trifft selten die besten Unternehmensentscheidungen.

Binder: Der Vorteil ist klar: Die regionale Wertschöpfung muss berücksichtigt werden, und es braucht eine Strategie für Energiesicherheit, für die Netze, und was sind die Schwerpunkte in der Zukunft. Sind die im Bereich Technik, in der Pharma, in der Elektromobilität, sind wir der Hidden Champion bei bestimmten Technologien? Überlassen wir das den Unternehmen selbst und die Leute irgendwelchen Investoren, oder gestalten wir die Zukunft selbst? Ein weiterer Vorteil eines solchen Fonds ist, dass das Geld nicht auf einen Schlag da sein muss.

STANDARD: Weil Sie die Lohnrunden angesprochen haben: Der Metallindustrie haben Sie im Dezember mit der Wettbewerbs- und Beschäftigungssicherungsklausel eine Art Lohnrabatt eingeräumt. Personalintensive Unternehmen müssen KV- und Ist-Löhne weniger erhöhen, wenn der Anteil des Personalaufwands an der Wertschöpfung mehr als 75 Prozent beträgt. Wie viele Unternehmen dürfen weniger zahlen?

Binder: Die Evaluierung ist noch nicht abgeschlossen, deshalb möchte ich dazu nichts sagen. Ich bitte dafür um Verständnis.

STANDARD: Bei den Metallverarbeitern, also der Metalltechnischen Industrie, sind es knapp 80 Unternehmen, in der gesamten Metallindustrie rund hundert, darunter auch die Kfz-Industrie, die eigentlich nicht zu den personalintensiven Branchen gehört. Warum sind es jetzt um ein Drittel weniger, als im Dezember beantragt haben?

Binder: Die Evaluierung läuft noch, aber manche haben wohl den zweiten Teil der Klausel nicht gelesen. Es muss einen verpflichtenden Ausgleich für die Beschäftigten geben.

STANDARD: Vorbildwirkung entfaltete das Modell nicht, keine andere Branche hat ein ähnliches Modell ausverhandelt, bei dem ein Teil der Lohnerhöhung in Form von Freizeit oder Einmalzahlungen abgegolten wird. War das ein Sündenfall, ein Fehler?

Binder: Nein, ganz und gar nicht. Das war notwendig, sonst hätten wir die zehn Prozent oder bis zu 400 Euro mehr im Monat nicht bekommen, die uns in der Metallindustrie wichtig waren. Darauf sind wir stolz. In dieser extremen KV-Runde hat das zu einer Entspannung geführt, und wir Sozialpartner haben jetzt wieder ein konstruktives Gesprächsklima. Das war für uns nicht lustig, das war auch für die Arbeitgeber nicht lustig. Eine Qualifizierungsoffensive für angelernte Kräfte haben wir auch bekommen, damit aus Hilfsarbeitern Fachkräfte werden. Das Ausbildungsmodell wird nach der Frühjahrslohnrunde verhandelt, und da geht es um ein Potenzial von bis zu 100.000 Arbeitnehmern. So eine Aufqualifizierung wäre ein Riesengewinn.

(NTERVIEW: Luise Ungerboeck, 26.4.2024)