Recep Tayyip Erdoğan geht mit seinem Handelsboykott gegen Israel ein großes Risiko ein.
REUTERS/Umit Bektas

Die israelische Regierung hat am Wochenende erklärt, Beschwerde bei der Industriestaatenorganisation OECD einzureichen, weil die Türkei am Donnerstagabend angekündigt hatte, den gesamten Handel mit Israel so lange auszusetzen, bis es mehr humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen zulässt.

Israels Wirtschaftsminister Nir Barkat sagte, Präsident Recep Tayyip Erdoğan sei ein "antisemitischer Diktator", der mit dem Handelsboykott gegen internationales Seerecht verstoße und globale Lieferketten unterbreche. Das bezieht sich unter anderem auf israelische Ölimporte aus Aserbaidschan, die bislang über die Türkei gingen. Die OECD soll gegen die "wahnhafte Entscheidung" vorgehen, die der gesamten europäischen Wirtschaft schade.

Tatsächlich ist der Boykott des gesamten Handels mit Israel bislang präzedenzlos. In den vielen Hochs und Tiefs der türkisch-israelischen Beziehungen hat es nie einen vollständigen Boykott gegeben – im Gegenteil, auch wenn es schlecht zwischen den beiden Ländern lief, war der Handel noch so etwas wie die Lebenslinie der Beziehungen.

Türkei schadet sich selbst

Auch wenn sich Israel nun lautstark über die Aussetzung des Handels beschwert, trägt auch die türkische Wirtschaft Schaden davon. Das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern betrug 2023 rund sieben Milliarden Dollar. Drei Viertel davon waren türkische Exporte nach Israel, nur ein Viertel Importe aus Israel. Der sowieso stark kriselnden türkischen Wirtschaft wird diese Maßnahme deshalb sicher nicht helfen.

Türkische Exporteure denken laut der Nachrichtenagentur Reuters bereits darüber nach, wie sie die Sanktionen umgehen können. Es ist die Rede davon, Exportgüter über den Balkan nach Israel zu schleusen. Die wichtigsten türkischen Exportgüter nach Israel sind Maschinen, elektrische Geräte, Fahrzeuge und Stahl.

Wegen der wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen des Handelsboykotts für die Türkei hat Erdoğan lange mit diesem Schritt gezögert. Zunächst hatte es nur Handelsbeschränkungen für einige ausgesuchte Güter gegeben. Innenpolitisch war Erdoğan aber wegen des Widerspruchs zwischen seiner verbalen Verurteilung des Krieges und dem anhaltenden Handel mit Israel immer mehr unter Druck geraten.

Erdoğans "Doppelmoral

Bei den für Erdoğan desaströsen Kommunalwahlen am 31. März hatte vor allem die islamistische Konkurrenz von Yeniden Refah Erdoğans "Doppelmoral" kritisiert und damit erhebliche Stimmengewinne erzielt. Für Yeni Refah war es das erste Mal nach 20 Jahren Regierung, dass eine Abspaltung aus seinem eigenen ideologischen Lager rund acht Prozent der Stimmen holen konnte.

Außenpolitisch geht Erdoğan mit diesem Schritt allerdings ein erhebliches Risiko ein. Nicht nur potentielle Investoren aus den USA und Europa werden abgeschreckt, auch seine Versuche der Wiederannäherung an die EU und die USA könnten erheblichen Schaden nehmen. Sein Treffen mit US-Präsident Joe Biden, dass für den 9. Mai geplant war und Erdoğans erster Empfang im Weißen Haus seit Bidens Amtsantritt werden sollte, ist bereits gestrichen.

Auch Verhandlungen zwischen der Türkei und der EU über eine Erweiterung der Zollunion könnten dadurch beeinträchtigt werden. Erdoğan rechtfertigte seinen Schritt am Wochenende noch einmal damit, dass der Handelsboykott dazu beitragen solle, Druck auf Israel zu erzeugen, damit es einem Waffenstillstand mit der Hamas zustimmt und das Leid der palästinensischen Zivilisten dadurch gelindert wird. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 5.5.2024)